Nach ca. 1 Jahr Pause erscheint nun das 4. „Solo“-Album „Abstand“ oder genauer „Mit dem Abstand der Jahre“ von Friedel Geratsch. Wer die letzten Rezensionen über die Friedel Geratschs Produktionen gelesen hat, weiß, dass er sich der Cigarbox Musik verschrieben hat. Die dahinterstehende Cigarbox Guitar wird vom Spieler auch aus einfachsten Materialien wie eben einer Zigarrenkiste als Körper und Latten, Besenstielen oder alten Gitarrenhälsen selbst zusammen baut. Es war ursprünglich eine Möglichkeit, sich eine günstige Gitarre selbst herzustellen. Ich zitiere sinngemäß Jack White aus „It might get loud“: „Who said, you need to buy a guitar?“ In der Regel haben sie 3 oder 4 Saiten, können elektrisch verstärkt werden und produzieren einen sehr typischen Gitarrensound, der sich wie ein roter Faden durch eben diese letzten CDs zieht. Friedel Geratsch hat mittlerweile 67 Stück selbst gebaut. Alle Stücke sind mit Cigarboxgitarren eingespielt.
Ein weiteres Unikum ist die Sprache, in der Friedel Geratsch textet und singt: Er schreibt in deutscher Sprache. Jetzt ist es aber etwas schwierig, sich im deutschsprachigen Raum vom Volksschlager signifikant zu unterscheiden, wenn man nicht gerade Niedecken oder Müller-Westernhagen oder gar Grönemayer heißt. Wenn man Deutsch singt, muss der Zuhörer gezwungenermaßen genauer hinhören oder besser gesagt: Man kann sich der Sprache und den Themen nicht entziehen, wenn man sich nicht gerade taub stellt. Friedel Geratsch gelingt es seit vielen Jahren, mit seinen deutschen Texten und der Cigarbox Musik Musikfans in seinen Bann zu ziehen, weil die Musik rau, rockig und intensiv ist und die Texte berührend sind. Friedel Geratsch wird, wie schon oft, den Gewinn aus dieser CD an das Tierrefugium Hanau spenden.
Das Album „Abstand“ hat dieses Mal sogar reichliche 16 Titel, die zum größten Teil aus seiner Feder oder aus der Kooperation von Carlo von Steinfurt und Andreas Kunst stammen. Carlo von Steinfurt alias Thomas Passman-Engel ist der Draht zur gemeinsamen Vergangenheit und er spielt neben Pascal Cherouny Bass. Zum Bandteam gehört wieder Stephan Schott an den Drums, der bei früheren Produktionen von Friedel Geratsch schon mitgespielt hat. Das Album startet gemächlich mit dem Song „So vergeht die Zeit“. Der Takt ist langsam, nur ein bisschen Bassdrum und Friedel Geratsch schildert die Momente vor dem Einschlafen, wenn sich Bilder von nebeligen Sümpfen im Gehirn breit machen. Der Song ist lediglich in einer Harmonie gespielt und durch das Bohren der Lead-CGB-Guitar markant. „Die Wüste in mir“ ist ebenfalls ein langsamer Song, aber mehr als Ballade ausgelegt. Friedel Geratsch hat die Begabung, Reim an Reim zu setzen, um erst mal das Versmaß einzuhalten. Was in der ersten Sekunde wie gnadenlose Dichterei wirkt, entspinnt sich aber in der dauerhaften Fortführung eines veritablen Gedankens, den der Zuhörer aber selbst interpretieren kann. Der Song endet wie er begann: Ruhig und entlässt den Hörer mit unausgesprochenen Gedanken eines desolaten Zustandes auf der Suche nach ihr. „Abstand“ ist eine weitere Ballade. Der Held des Songs blickt mit „Abstand“ und der Erkenntnis zurück, dass man Dinge nicht mehr ungeschehen macht, weil man die Milch nicht mehr aus dem Kaffee nehmen kann. Der Ausspruch stammt aus der Zeit von Friedels Oma, wurde von ihr verwendet und hat großen Wahrheitsgehalt – Überlege Dir vorher, was Du machst! Mit einer Schaufel Kohle auf dem Feuer geht weiter bei „Aus dem Ruhrpott“: Kindheitserinnerung einer Generation von Kindern der Nachkriegszeit und 50er Jahre. Wer heute im gesetzten Alter ist, verspürt ähnliche Déjà-Vus, weil die Person in einer Zeit geboren sind, wo man draußen im Freien und nicht drinnen vor der Spielkonsole aufgewachsen ist. Und noch ein Quäntchen mehr Ruhrpottkohle aufs Feuer – „Es ist heiß“ heißt genau so, wie der Song klingt: Markanter Bluesrock auf nur einem Riff und einer Harmonie ähnlich der Gebetsmühle, die bemüht wird, um der Hölle zu entgehen. Der Song treibt den Hörer immer näher ans Feuer und man kann sich dem Rhythmus und Drive kaum entziehen. Leichte Bluesharplicks prägen die Nähe zum Blues. „Kein Blues“ ist trotzdem ein Blues, weil das Intro den geneigten Hörer erst mal an den Bluesstandard „Messin‘ with the kits“ erinnert. Aber es geht nicht um den Blues an sich, sondern um eine Person, die nicht nur mit seinen Gefühlen spielt sondern ihn auch hart auf die Probe stellt. Überhaupt sind die Beziehungen zu Frauen oder anderen Menschen im Allgemeinen ein zentrales und oft zitiertes Thema. Selbst bei den „1000 Frauen“, welche an ihm vorbeiziehen, sucht der Songheld sich auch noch die Falsche aus. Da soll man nicht den Blues bekommen. Am Schluss bleibt nur das Abtauchen in den Alkohol. Der Song ist ein veritabler 12-Takt-Blues, ab der Mitte das obligatorische, aber spannend gespielte Gitarrensolo mit Triolenlicks, die sich ins Hirn des gequälten Kerl hämmern. Stil- und Soundwechsel mit „Danke, danke, danke“ – Intro und Sound erinnern an die Jahre der Neuen Deutschen Welle, an der Friedel Geratsch maßgeblich beteiligt war. Der Song ist schnell, der Sound birgt mehr als man es mit nur Gitarren vermuten könnte – eben NDW Sound. Und wieder blickt er in die tiefen Abgründe von Beziehungen und begrüßt das Ende mit einem ebenfalls schnellen Ende des Songs. „Nie ihre große Liebe“ wird Peter Green Fans freuen. Tiefer, klarer Gitarrensound mit Hall und Raumtiefe. Ein Song in Moll gehalten. Aber Vorsicht: Es muss keine Person sein, um die es hier geht. Warum nicht der treue Hund, der nicht nach Hause kommt? Und am Ende der Enttäuschung steht wieder mal der Alkohol, in dem der arme Kerl sich ertränkt. Stimmungswechsel mit „Wirf’n Blick auf mich“. Den Sound im Countrystil gehalten preist er sich an wie auf einer Partnerschaftsbörse – Durchaus opportun mit den im weltweiten Netz bekannten Partnerschaftplattformen, die neues und beständiges Liebes- und Lebensglück vorgaukeln. Und Friedel Geratsch spielt Mundharmonika und zieht damit alle Register, um der Interessierten zu gefallen und seine Liebe zu zeigen. Neben der Harp fällt auch ein schönes Solo mit Slide auf. Bei „Es hält noch an“ werden die Zügel wieder aufgenommen. Harter Bluesrhythmus mit schweren Gitarrensound und immer wieder die Slides der CBG, die so tief kommen als stammen sie aus einem amerikanischen Canyon. Es ist ein Liebesgeständnis, dass auf eine lange Zeit der Beziehung zurückblickt und sich daran erfreut, dass es eben noch anhält. Auch Balladen sind bei den 16 Songs vertreten. „Hör auf zu weinen“ ist ein ruhiges Lied, welches das tiefe Gefühl einer Beziehung beschreibt, auch wenn es sich eines Tages beenden könnte. Der Song berührt wegen des romantischen Textes und auch der ruhig gespielten Ballade. Zwar könnte man Phrasen wie „Worte und zuckersüße Reime“ erstmal dem Schlagergenre zuordnen, aber zuallererst geht es um Gefühle zwischen Liebenden, die es auch im Blues und Rock gibt oder bei der Cigarbox Musik ihren Platz haben.
Ein Musiker und Mensch wie Friedel Geratsch kann Songs schreiben, die autobiografischen Züge haben können. Wenn hier von „ihm“ geredet wird oder „er“ zitiert wird, muss das aber nicht Friedel Geratsch sein, sondern erst mal eine fiktive Person. Die Tatsache, dass er mehrere Karrieren schon auf dem Buckel hat, spiegeln sich in „Ich fang immer wieder neu an“. Langsamer Boogierhythmus, Solos auf langgestreckten Harmoniepassagen und immer wieder die schneidende Slides auf der CGB. Alles was Recht ist – Aber das ist guter deutscher Blues! Der „Böse Blues“ ist dagegen ein Unikum: Rhythmus, Instrumentierung mit Harp und Slidegitarre zeigen in Richtung Blues. Aber der Song produziert eine Deja Vu: Diese Stimme und Intonation kennen wir bestens. Dabei haben wir doch alle schon mal in die Hände gespuckt. Das Ende naht mit „Ich sage nicht gern auf Wiedersehen“. Der letzte Song des Albums „Abstand“ ist wieder ein langsamer Blues. Friedel reimt und dichtet über Zukunft und Vergangenheit und schaut irgendwo ins Nirgendwo, während er den weißen Booten im tiefen Blau nachschaut. Und er fragt sich, ob sie auch noch an ihn denkt. In dem Wunsch, nicht Auf Wiedersehen sagen zu müssen, steckt die Hoffnung, sich wieder zu sehen. Der letzte Song mit dem „letzten Ton“ beschreibt ein Ahnung, die sich an dem Ende des Lebens orientiert: Feuchte Erde, welke Blätter, die Nacht lauert und der letzte Ton verklingt. Ein Thema, mit dem die Menschheit in den letzten 12 Monaten intensiver den je auseinandersetzen musste.
MunichTalk Hörempfehlung: „So vergeht die Zeit“, weil es bluesig ist und dank der Gitarren tief in die Seele eindringt, „Aus dem Ruhrpott“ weil sich damit alle Sechzigjährigen identifizieren können, auch wenn sie nicht aus dem Ruhrpott kommen und dann noch “ Es ist heiß“, weil ich gebetsmühlenartige Musik mag und auch „Danke…“ weil es eine kleine Brücke zur Neuen Deutschen Welle schlägt, der Viele von uns Bluesern auch verhaftet sind. Noch bissel Brit-Blues mit „Nie ihre große Liebe“ und „Der letzte Ton“ muss auch gehört werden.
MunichTalk Resumé: Mit „Abstand“ feinste Cigarbox Musik mit noch feineren deutschen Texten, denen man sich bei Friedel Geratsch schon seit Jahren nicht mehr entziehen kann.
Songliste:
01) So vergeht die Zeit
02) Die Wüste in mir
03) Mit dem Abstand der Jahre
04) Aus dem Ruhrpott
05) Es ist heiß
06) Kein Blues
07) Tausend Frauen
08) Danke Danke Danke
09) Nie ihre große Liebe
10) Wirf `n Blick auf mich
11) Es hält noch an
12) Hör auf zu weinen
13) Ich fang immer wieder neu an
14) Böser Blues
15) Ich sag nicht gern auf wiedersehen
16) Der letzte Ton
Musiker und Produktionsteam:
Friedel Geratsch Gesang, Cigarbox Gitarren, Bluesharp, Kofferdrum
Stephan Schott Drums
Thomas Passman-Engel Bass
Pascal Cherouny Bass bei 06, 08, 14, 15
Andreas Kunst, Friedel Geratsch Mix
Martin Meinschäfer Mastering Megaphon Tonstudios
Alle Lieder Text und Musik Friedel Geratsch
Außer 12) Text: Friedel Geratsch, Musik: Friedel Geratsch/Carlo von
Steinfurt / Andreas Kunst, 15) Text: Friedel Geratsch,
Musik: Friedel Geratsch/Andreas Kunst
Alle Titel verlegt im Boogaloo Musik Verlag
Videos:
[youtube https://www.youtube.com/watch?v=uO4kMMaAqUo]
Links:
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Bezugsquelle für das Album im Presale:
https://shop.ientertainment.de/friedel-geratsch-mit-dem-abstand-der-jahre.html